The Present in Drag
Die Berlin Biennale hat wie die Stadt, die sie beherbergt, den Ruf und den Anspruch, die Nase weit vorne zu haben. Feierten die letzten Editionen ein Wiederaufbäumen der radikalen Positionen einer zielgerichtet politischen Kunst, lokalisiert die diesjährige Ausstellung im Groove der „postdigitalen Post-Gegenwart“ den Kunstbegriff zwischen Marketing und Esoterik.
Da wir die Gegenwart nicht erkennen oder gar verstehen könnten, konzentrierten sich die 120 geladenen Kunstschaffenden darauf, Fiktionen zu entwickeln, statt auf die Realität zu setzen, denn «sie sind von der Ungewissheit nicht überfordert, sondern inspiriert». Dies die Worte der Kurator/innen, des New Yorker Künstlerkollektivs DIS (von DISorder), das als selbsternanntes Opfer der Wirtschaftskrise 2008 ein Webmagazin betreibt (DISmagazine.com), mit hauseigenem Blog (DIScussion), Bildagentur (DISimages), Musikvertrieb (DISco) und Designartikelverkauf (DISown). Konsequenterweise beherbergt die Biennale einen heterogenen Themen- und Ästhetik-Mix aus Design, Fashion, Kommerz und Esoterik. Mit einer Vielfalt von Positionen bespielt das Kuratorenteam fünf Ausstellungsorte und pocht auf seine DISorder-Logik. Grundkonzept und Leserichtung sind nun entsprechend schwer zu fassen, statt in einer Gegenwartkunstausstellung wähnt man sich in einer zusammengewürfelten Designer-, Mode- oder Wirtschaftsmesse.
Im KW Institute for Contemporary Art hat das Künstlerkollektiv Åyr eine virtuelle Fotowohnwand mit Kuschelnischen installiert - ‹A Truly Spiritual Room› - und in der Akademie der Künste finden sich neben der Detoxbar ein funktionierendes Fitnessstudio sowie ein Pflanzenbiotop. Am Eröffnungsabend defilierten weiss gestylte, leicht alienmässig wirkende Models des ‹Centre of Style›, während uns Arunanondchai und Gvojic im ‹Blue Star›-Schiff in ihrer Videoprojektion in eine post-humane Zukunft beamen, in der Ratten die Weltherrschaft übernommen haben. Auf der Online-Plattform ‹Fear of Content› wirbt GCC (Gulf Cooperation Council) dafür, dass positive Gedanken reale Gegebenheiten anziehen, und die Brüder Fujiwara untersuchen den Finanzwert vom Glücklichsein. Wie ernst diese Spielereien zu nehmen sind, sei dem Urteil jedes Einzelnen überlassen.