Biennale dell’Immagine 11: Boris Mikhailov, Arnold Odermatt

Chiasso hat es an sich: wo die Schweiz endet und Italien beginnt geht das Mitteleuropäische in das Südeuropäische über und ringt miteinander. Während der „Biennale dell’Immagine“ setzt sich die verschlafene Grenzstadt alle zwei Jahre mit ihrem speziellen Schicksal auseinander: hie und da lombardische Brüder und Schwestern gleicher Sprache, mitten drin abrupt getrennt durch die Staats- und Währungsgrenze.

Vor allem sind es aber die beiden so kontrastreichen wirtschaftlichen Wirklichkeiten, die seit Jahren schwerwiegende soziale Spannungen und Gefälle zwischen Tessinern und Lombarden provozieren. , der Titel der diesjährigen trifft den Nagel auf den Kopf und drückt die verschärfte und widersprüchliche Lage zwischen Kollision und Entspannung, zwischen Fraktur und Zusammenwachsen, zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Feindschaft und Freundschaft in seinen unterschiedlichen Facetten aus.
Am emblematischsten visualisieren die Polizeifotos von Arnold Odermatt das Prinzip des Zusammenstosses: seit den 40er Jahren hat der Nidwaldner Polizist während Jahrzehnten die Unfälle im Kanton mit seiner Kamera auf distanziert objektivierende Art dokumentiert. In der Sala Diego Chiesa sind nun die 32 Crashbilder zu sehen, welche Harald Szeemann für die Biennale di Venezia 2001 ausgewählt hatte. Der genaue Blick von Odermatt und seine chirurgisch akkurate Auswahl des Standpunktes und der Bildgeometrie schälen die Unfallsituationen aus den erhabenen Landschaften heraus und schaffen eine krasse Spannung in den schwarz-weiss Aufnahmen. Die zusammengestauchten oder abgestürzten Wracks präsentieren sich in den absurdesten Stellungen und wachsen wie groteske Ready-Made-Skulpturen aus der idyllischen Innerschweizer Landschaft.
Die grossformatigen, im Raum hängend installierten Diptychen von Boris Mikhailov manifestieren den auf weniger direkt materielle Art der Odermattschen Karambolagen. Der Zusammenstoss ereignet sich hier in formalem oder übertragenem Sinn. Rein formal gesehen kontrastieren sich die beiden Bildhälften, die Farben, Licht und Schatten, Schärfe und Unschärfe, die Richtungen oder die Proportionen in den Kompositionen. Auf der übertragenen Ebene sprechen diese düsteren und melancholischen Bilder von einem nie in Betrieb genommenen Betonkrematorium kombiniert mit ärmlichen Szenen aus dem postsovietischen Russland von Leben und Tod, von Präsenz und Absenz, von Kommunismus und Kapitalismus, von Macht und Ohnmacht.
Die Inszenierung des als Konsequenz der Grenzziehung, der Maueraufrichtung schärft in seiner Radikalisierung das Bewusstsein für Ausgrenzung, Abschottung und fehlende Integration. Was kommt nach dem ? Sprechen wir in zwei Jahren von Öffnung, Verbrüderung und einem ebenso radikalen Neubeginn?



5.10.-8.12. 2019

Officine, Sala Diego Chiesa, Chiasso


Published in
Kunstbulletin 12/2019

Arnold Odermatt, Stansstad, 1967, Pro Litteris
1 / 6

Arnold Odermatt, Stansstad, 1967, Pro Litteris

Arnold Odermatt, Buochs, 1965, Pro Litteris
2 / 6

Arnold Odermatt, Buochs, 1965, Pro Litteris

Arnold Odermatt, Stansstad, 1969, Pro Litteris
3 / 6

Arnold Odermatt, Stansstad, 1969, Pro Litteris

Boris Mikhailov, 138
4 / 6

Boris Mikhailov, 138

Boris Mikhailov, 0033
5 / 6

Boris Mikhailov, 0033

Boris Mikhailov, 123A
6 / 6

Boris Mikhailov, 123A