Claudia Walther – Die surreale Spur

Dem roten Faden von Ariadne folgend – vorerst geblendet und unwissend, aber durchaus neugierig und offen, im Dunkeln der Unwissenheit tappend – saugen die Betrachtenden die visuellen Eindrücke ein und entdecken in einem geduldigen, langsamen Bewusstseinsprozess unterschiedliche Bedeutungsschichten in den Arbeiten von Claudia Walther.

Entdecken ist in seinem direktesten Sinn gemeint: als ent-decken, von der Decke befreien, die den wahren Kern zudeckt und somit verbirgt. Etymologisch heisst Wahrheit auf griechisch Aletheya, A-Letheya, das Nicht-Verborgene. Wahr ist demnach, was abgedeckt im vollen Licht erscheint, in seiner ganzen Transparenz und Evidenz. Dieser Aufdeckungsprozess ist allerdings auch hier individuell und subjektiv geleitet und somit obligatorisch im Plural zu denken. Wahrheiten, oder besser Interpretationen und Bedeutungsstränge gibt es auch in Claudia Walthers Werk so viele wie Betrachtende.

Wohin führt Claudia Walthers surreale Spur?
Auf den ersten Blick führt sie in die surreale Welt der Gedanken- und Formassoziationen und in die Tiefen des Unterbewusstseins. Die Skulpturen von Claudia Walther sind vorerst von ihrer materiellen Machart her surrealistisch. Sie bestehen aus «Objets trouvés», gefundenen Gegenständen, welche collageartig auf präzise Art zusammen arrangiert und im Raum installiert werden. Erotische Anspielungen finden sich genauso wie Gender-Ambivalenz. Zeit und Vergänglichkeit beschäftigen die Künstlerin ebenso wie das Spiel mit dem Zufall und dem Unerwarteten oder des Erscheinens und Verschwindens.

Zeit und Vergänglichkeit
Die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit der Zeit erinnert an das Bild «Die Beständigkeit der Erinnerung» von Salvador Dalì, in dem die Uhren schmelzen wie Camembert Käse. In Walthers Objekt, «L’heure musicale» (Die musikalische Stunde) hängt ein weisses Ziffernblatt mit beflügeltem Goldpendel an der Wand. Die unbeweglichen Zeiger bestehen aus goldenen Renaissancezirkeln, über denen ein gleichfarbiger Mini-Notenständer wacht. Das Pendel fungiert gleichsam als fliegendes Metronom, welches den Takt schlägt und so die vergehende Zeit direkt sichtbar macht. Der Zirkel zeichnet den Kreis, die perfekteste aller geometrischen Formen: Symbol der Unendlichkeit. Durch das Weiss und die feinen Silber- und Goldlinien, aber auch durch die kaum sichtbaren feinen beigen Federn, wirkt das Ready-Made Objekt leicht und schwebend, entzieht sich unserer Zeitrechnung und transzendiert ausserhalb unserer Wirklichkeit und Zeitmessung ins Anderswo.
Mechanisch agiert hingegen der Pinsel in «Mal-Zeit». Er wurde anstelle des Bohrers in einer Handbohrmaschine einspannt. Die runde Scheibe derselben hat die Künstlerin in ein Ziffernblatt verwandelt, indem sie zwei Zeiger zur Kurbel hinzugefügt hat. Das Objekt wirkt überzeugend: die Collage ist kaum sichtbar und die Elemente integrieren sich organisch zu einem Ganzen. Die «Mal-Zeit» ist genauso befreite Zeit, wie die «Musik-Zeit». Freigeschaufelte Zeit ausserhalb der materiellen Sachzwänge und der alltäglichen Verpflichtungen: Zeit des Denkens und Machens, Zeit der Materialisierung des Geistes, des Übersinnlichen, des Surrealen. Zeit der Poesie.
Frei nach dem Vorbild der Vanitas des 17. Jahrhunderts, erinnert auch die «Nature Morte» von Claudia Walther an die Vergänglichkeit und letztlich an unsere Sterblichkeit. Auch wenn der Apfel im gläsernen Windlichtbehälter noch knackig rot und glänzend erscheint, wissen wir nur zu gut, dass in kurzer Zeit seine Tage gezählt sein werden und die Haut geschrumpft und braun verfärbt sein wird. Das Ästchen, welches um einiges über den Glaskörper hinausragt, wirkt trotz dessen Schutz schon jetzt leblos, dürr und dürftig.
Auch «Fruit-Family», «Brot und Sellerie» oder «Mahl-Zeit» thematisieren die Vergänglichkeit der Natur versus die relative ontologische Stabilität von Kulturgegenständen wie Petflaschen, Glasvasen oder Holzständern. Die Zitrusfrüchte, die auf den gekürzten Petflaschen thronen, die Köpfe einer Familie darstellen oder das Brot und der Selleri, die an Morandi erinnernd, auf der Glasvase oder dem Kerzenständer balancieren sowie die feinen Häppchen in kleinen Tellerchen auf einem Holzständer, repräsentieren gleichermassen jugendliche Frische und dessen Gegenpart, alternde Hässlichkeit und schliesslich das Verderben und den Tod.
Die drei Skulpturen weisen überdies auf den in unserer Überflussgesellschaft oft despektierlichen Umgang mit Nahrungsmitteln hin. Bei Claudia Walther, welche jeden Morgen die Opferschalen auf ihrem kleinen Altar befüllt, sind solche «hoch-gehaltenen» Lebensmittel auch immer als spirituelle Offerings zu verstehen.

Zufall und Auswahl
In «Playtime» wird das Ziffernblatt zu einem Würfelteller, welcher horizontal auf einem weissen Sockel positioniert ist. Darin liegen zwei Würfel, auf denen sich an Stelle der Zahlen Farbtupfer befinden. Die Künstlerin wird die zu benutzenden Farben würfeln und so das Resultat ihres Werkes dem Zufall überlassen.
In den anderen Werken spielt der Zufall diskreter Regie: Die Gegenstände, aus denen die Objektcollagen komponiert werden, sind «Objets trouvés», welche die Künstlerin nach guter Duchamp Manier auswählt, sammelt und wieder in Szene setzt, indem sie diese dekontextualisiert, ihnen ihre ursprüngliche Funktion raubt und sie dann zu einem neuen Ganzen kombiniert.
Nicht dem Zufall überlassen ist allerdings die Methode und die Struktur. Die «Combine-Objects» von Claudia Wahler sind präzise komponiert und inszeniert. Die Offenheit der Bedeutungsebenen und Deutungsmöglichkeiten, welche fälschlicherweise als neblig und unscharf interpretiert werden könnte, nimmt den Objekten nichts an Präzision und Schärfe in ihrer sinnlichen, materiellen Erscheinung.

Erotik und Sexualität
Der weibliche, surreale Blick auf Erotik und Sexualität wirkt, im Unterschied zum historisch mehrheitlich männlichen Zugang der Surrealisten – in welcher die Frauen oft mit Objektcharakter dargestellt wurden – intimer, wärmer und emotionaler. Zwei Arbeiten mit erotischen Charakteristiken befinden sich in Schachteln. Sie sind umgeben von einer schützenden Wand, um die Intimität und Fragilität ihrer Sexualität nicht preiszugeben.
Beide Schachteln sind bis zum Rand gefüllt mit langen Haaren. In «Die Malerin» liegt darin ein kleines, feines Aquarell von einer Malerin im Habit des 18. Jahrhunderts in einem eleganten runden Goldrahmen, hinter welchem ein feiner Pinsel aufragt. In der zweiten Schachtel mit dem Titel «Secret Union», finden wir im Haar-Bett versunken eine kleine, schwarze, ovale Schale, welche in ihrem Inneren einen ebenso schwarzen Stab mit Gold-Kopf schützend aufnimmt. In «Transgender Moustache» sind zwei Echthaarbüschel auf einem hohen, gusseisernen Kerzenständer drapiert. Die beiden symmetrischen Halbkreise, welche auf beide Seiten schwingen, oszillieren ambivalent zwischen einem exzentrischen Schnurrbart des Fin de Siècle und einer schulterlangen Damenfrisur nach dem «Waschen und Legen». Die Skulptur führt uns entweder ein geschlechtliches Zwitterwesen oder eine intime Umarmung zweier Liebender dar, welche eben zum «Einen» verschmolzen sind. Die binäre Struktur der männlich-weiblich Logik finden wir im Weltbild von Erde und Himmel, sinnliche Wahrnehmung versus Transzendenz wieder, welche sich in der Bewegung des Aufstiegs in Claudia Walthers Werk entlang der Sockelproblematik ausdrückt.

Erscheinen und Verschwinden
Assoziationen und Bedeutungen sollen absichtsvoll offen bleiben für individuelle Interpretation und subjektive Differenz. Verharren die Gegenstände selbst aber in ihrer fest definierten Materialität und sinnlichen Fassbarkeit? In Claudia Walthers Universum, in dem uns die kombinierten Gegenstände surreal aufgeladen in eigene Traumwelten führen, herrschen eigene Gesetze. Da fungiert Magrittes schwarze Melone auf der magischen Schale aus Silber als Zauberhut, aus dem eine Tigerkatze, rosa Blumen oder der Griff eines gespiegelten, bloss erahnten antiken Teekrugs hervorgezaubert werden – zur Überraschung des Publikums («Appearing/Disappearing»).
In den übermalten Fotografien lässt die Magierin die Gegenstände verschwinden durch eine feine Schicht von heller Acrylfarbe, welche unverhofft ihren Schleier über die Wirklichkeit legt und diese in eine magisch-mystische Stimmung versenkt. Die Betrachtenden schwelgen oder schweben in diesen abstrakt wirkenden Räumen der Ambivalenz und Unschärfe und verlieren sich in ihren Tagträumen. Ihr Blick schweift ab und scheint nach innen gerichtet, wie jener des «Mädchens in Rot».
Der Friedensbotschafter («Messaggero di Pace») fliegt derweil mit seinen weissen Flügeln am leuchtenden Laternenkörper über unsere Köpfe hinweg und mahnt uns, die acht Lebensregeln zur Erreichung der Erleuchtung für den Übergang ins Nirwana zu befolgen. Erscheinen und Verschwinden meint hier – neben jenem der Gegenstände und ihrer Materialität – ebenso den Übergang von einem materiellen Zustand in einen geistigen, mittels Konzentration, Nachdenken und Meditation. So erscheint der auf und in sich konzentrierte Mensch sich selbst in aller Evidenz, verschwindet andererseits aus der Sichtbarkeit der anderen, aus dem existentiellen Gewimmel des Alltags. In einem kontinuierlichen Crescendo erscheint er/sie/es sich selbst und verschwindet für die anderen in einer Schwellenerfahrung auf dem langen Weg zum inneren Frieden.

Die surreale Spur führt über die Wirklichkeit hinaus
Schon bei der ersten, flüchtigen Betrachtung von Claudia Walthers Arbeiten fallen die präzis ausgewählten und eingesetzten Sockelelemente ihrer Skulpturen auf. Es handelt sich auch bei diesen meist um gefundene Gegenstände wie gusseiserne Kerzenständer, Silberschalen auf hohen Stelen, Holzschalen auf hochragenden Ständern. Die Sockel unterstützen und präsentieren die Skulptur, überhöhen sie und führen sie in geistige Gefilde. Die hierarchische Dichotomie zwischen Materialität und Vergeistigung, zwischen sinnlich wahrnehmbarer Welt und dem Himmel der Ideen, zwischen der Vielheit und dem «Einen», zwischen dem irdischen Dasein und dem Nirwana erinnert an Strukturen aus dem Platonismus, dem Neoplatonismus oder dem Buddhismus. Claudia Walther vollzieht in ihren Arbeiten die Bewegung von der sinnlichen, materiellen und vergänglichen Welt der Gegenstände zur intelligiblen, geistigen und unvergänglichen Welt und nimmt uns mit auf ihre Reise.

Sockel und Raum
Der Sockel trennt und verbindet gleichzeitig die Skulptur, den Boden, und den Raum. Der Sockel liiert die Erde (die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit) mit dem Kunstwerk (der symbolischen Ebene) und dem Raum (dem geistig, ideellen Part). Er überhöht das dreidimensionale Kunstwerk und führt in einen anderen Wahrnehmungs- und Lesebereich ein als den gewohnt alltäglichen. Der Sockel, wie auch der Rahmen, indiziert eine Präsentationssituation. Beide sind Indizien, welche mit dem Zeigefinger bedeuten: Achtung Kunst. Indem sie eine Distanz schaffen, bilden sie die Voraussetzung für eine ästhetische Leseart. Das vom Display vorgeschlagene Objekt wird nun als poetischer Gegenstand verstanden. Der Sockel schafft eine Hierarchie durch die Präsentationssituation. Das Kunstwerk wird überhöht gegenüber den Zuschauenden. Eine Skulptur ohne Sockel bezieht sich von Du zu Du auf die Betrachtenden. Die Infragestellung der Sockel Ende 19. Jahrhundert entwickelte sich parallel zum Demokratisierungsprozess in der Politik (französische und liberale Revolution) und der politischen Sensibilisierung in der Kunst (Realismus) und hat den Demokratisierungsprozess auch formal in der Kunst in Gang gesetzt. Das Kunstwerk sollte nicht mehr als elitäres und autoritäres Objekt gesehen werden, welches wenigen Eingeweihten vorenthalten ist und die Mächtigen und ihre Macht repräsentiert und zementiert. Die Kunst sollte sich in den öffentlichen Raum, zum Volk bewegen. Rodins «Bürger von Calais» oder die Figuren von Giacometti beispielsweise schauen nicht auf das Publikum herab wie Marc Aurel vom hohen Ross auf dem Sockel. Im 20. Jahrhundert wurde das Augenmerk auf den Sockel selbst gelenkt: Brancusi beispielsweise hat der Basis genauso viel Aufmerksamkeit gewidmet wie der Skulptur, welche auf ihr zu stehen kam. Der Sockel wurde gleichsam Skulptur wie die Skulptur selbst. Bis dann bei den Minimalisten die Skulptur vollends verschwand und der Sockel selbst zum Kunstwerk wurde: siehe Robert Morris, Ulrich Rückriem, Carl André. Und bei Piero Manzoni wurde er gar zu einer Bühne für spontane Performance: wer auf ihn stand, wurde zu einer lebenden Ready-Made Skulptur. Das Publikum selbst wurde zum Kunstwerk erklärt. Der Sockel war nicht mehr eine unterstützende Basis, sondern wurde zu einer rhetorischen Figur. Ein Zeichen für die Interaktivität der Kunst, stetig im Dialog mit ihrem Publikum.
In Claudia Walthers Skulpturen bestehen die Sockel aus aufgestöberten und sorgfältig ausgewählten «Objets trouvés» – nämlich wie erwähnt gusseiserne Kerzenständer, hölzerne Schalen auf Stelen oder Silberschalen mit Fuss – ähnlich wie beispielsweise das Taburett beim ersten Ready-Made von Marcel Duchamp («Roue de bicyclette», 1913). Dies unterstreicht neben der surrealistischen, auch eine dadaistische Komponente in ihrem Werk. Gleichzeitig leiten ihre schlanken, sich emporrankenden Stelen, welche jeweils ein Element «auf Händen» tragen, über zum Thema des Aufstiegs. Die Stelen leiten den Blick vom Grund zum präsentierten Gegenstand in einem kontinuierlichen Crescendo, wie der Blumenstil zur Blüte. In einem vertikalen «Travelling» steigt der Blick von der Erde zum Himmel, von der Vielheit zum «Einen». Neoplatonisch gibt Claudia Walthers Ästhetik der Seele Antrieb für ihren Aufstieg in die Transzendenz. Die streng vertikale Struktur ihrer Objekte beinhaltet schon als potenzielle Kraft die Bewegung von der Differenz der materiellen Welt zum undifferenzierten «Einen». Im «The Saint» ist diese direkt lesbar: auf zwei Metallstangen schweben zwei goldene Schuhe. Der oder die Heilige selbst ist für die nicht eingeweihten Betrachtenden unsichtbar. In «Treasure» liegt eine Muschel auf einem im oberen Teil reduzierten Sektglas und präsentiert ein paar Perlen in einer kleinen Schatztruhe. Aus einer silbernen Schale auf einem eleganten konischen Fuss wächst ein aufstrebender Schwamm mit vielen fingerartigen Auswüchsen gegen den Himmel («Spounge»).
Im Buddhismus führt ein achtfacher Weg ins Nirvana: In der Erleuchtung lösen sich begrenzte Vorstellungen und Begriffe auf. Die Erleuchteten sind mit allem verbunden und verweilen im Hier und Jetzt. Das expliziteste Werk von Claudia Walther, welches die mystische neben der surrealen Spur unterstreicht, ist «Cosmic Time». Über dem auf drei Stützen fussenden, gedrechselten Gusseisenständer thront ein rundes, goldgerahmtes, silbern spiegelndes Ziffernblatt, über dessen Zentrum ein bronzenes Pferdchen galoppiert. Erst bei genauerem Hinsehen wird im spiegelnden Ziffernblatt sichtbar, dass sich im Bauch des Pferdchens ein Dorje (oder Varja), ein buddhistisches Ritualobjekt befindet. Dieses symbolisiert das Vajrayana, das heisst die Undurchdringbarkeit und Unzerstörbarkeit der Erleuchtung.

Auf der surrealen Spur – im Sinne des Sur-Realen, Überwirklichen – nimmt uns Claudia Walther mit auf den langen Weg in eine andere – transzendente – Wirklichkeit.




Sculpture, Photography, Painting

Claudia Walther, Spounge, Hommage a Max Ernst, 2021, Objekt, Silberschale, Schwamm
1 / 3

Claudia Walther, Spounge, Hommage a Max Ernst, 2021, Objekt, Silberschale, Schwamm

Claudia Walther, Die Malerin, 2018, Schachtel, Haar, Pinsel mit vergoldeter Spitze, Medaillon (vermutlich Angelika Kauffmann)
2 / 3

Claudia Walther, Die Malerin, 2018, Schachtel, Haar, Pinsel mit vergoldeter Spitze, Medaillon (vermutlich Angelika Kauffmann)

Claudia Walther, Male Female Hairplay, 2017, Objekt, Metall, Echthaar
3 / 3

Claudia Walther, Male Female Hairplay, 2017, Objekt, Metall, Echthaar