How Evil is Pop Art? New European Realism 1959-1966

Tobia Bezzola wirft in seiner kontrastreichen, dichten und eklektischen Schau, Tullia Trevi zitierend, die Frage auf “Wie diabolisch ist Pop Art?”. Der neue Direktor des Masi Lugano setzt die Latte sogleich hoch an, denn die Geschichte der Pop-Art soll gänzlich neu geschrieben werden.

Die als amerikanisch bekannte Kunstrichtung entwickelte sich in Wirklichkeit aus europäischen Vorläufern Ende 50er, Anfang 60er Jahre. Der Wiederaufbau Europas ging Hand in Hand mit dem gewaltigen Wirtschaftsboom und dessen bunt schreiender Werbung, der rasante hegemoniale Aufstieg der USA löste die zusammenbrechenden Commonwealth Grossbritanniens und die Kolonialmacht Frankreichs ab. Die amerikanische Warenästhetik wurde kurz nach der Landung der Alliierten zum Publikumsmagnet und bald etablierten sich Coca-Cola und Lewis, Chewing-Gum und Esso als faszinierende Symbole des hoffnungsvollen Neubeginns in den Köpfen der Konsument*innen. Als Reaktion auf die elitäre abstrakte Kunst nach 1945, forderte die Pop-Art in Europa eine Demokratisierung der Kunst, nobilitierte die „Low-Art“ durch vielgestaltige Formen der Appropriation der Alltagsästhetik und durch Inklusion von Industriegegenständen als Echo der dadaistischen Ready-Mades.
Die Ausstellung aus Beständen zweier hochkarätiger Sammlungen – Olgiati und eine anonym bleibende – enthüllt die wahren Ursprünge der Pop-Art in Grossbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien und erlaubt es, einige bisher kaum bekannte Werke zu entdecken. Die britischen Künstler um den „IG, Independent Group“, Richard Hamilton, Peter Blake oder Pauline Bloty, gelten als die eigentlichen Vorreiter der Pop-Art, ihre Collagen aus Zeitschriften und Übermalungen sind vorwiegend kleinformatig. Die französischen Nouveaux-Réalistes setzen die gefundenen Gegenstände auf spielerische und ironische Weise in Szene: Tinguely bewegt, Christo verpackt und Spoerri fixiert die „objets trouvés“, während Martial Raysse seine grafische Ästhetik mit knalligen Farben entwickelt. Die Effizienz der plakativen Anzeigeästhetik multiplizierend, spielen die Werke der Italiener Tano Festa, Mario Schifano, Pistoletto oder Mimmo Rotella mit der visuellen Wirkung der Werbeflächen.
Nicht zufällig befindet sich Konrad Luegs (eigentlich Konrad Fischers) Bild am Anfang der Ausstellung: Der von einem Pressefoto abgemalte Boxkampf symbolisiert wohl den kalten Krieg oder den kapitalistischen Konkurrenzkampf. Die europäische Pop-Art ante litteram zeigt sich vielschichtig, ironisch und tiefgründig: sie schreit zurück, wie das Echo aus dem Wald.



23.9.18-6.1.19

Spazio -01, Collezione Olgiati, LAC, Lugano


Published in
Kunstbulletin 11/2018

Konrad Lueg, Cassius Clay, 1964, Privatsammlung
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Konrad Lueg, Cassius Clay, 1964, Privatsammlung

Tano Festa, Viva l’estate, 1965, Privatsammlung
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Tano Festa, Viva l’estate, 1965, Privatsammlung

Mario Schifano, Particolare di propaganda, 1962, Privatsammlung
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Mario Schifano, Particolare di propaganda, 1962, Privatsammlung