Aleksandr Rodčenko
Auf den Millimeter präzis geführte Linien, jede Komposition ein ausbalanciertes Gleichgewicht: Aleksandr Rodčenko überträgt die Prinzipien des Konstruktivismus aus seiner streng geometrischen Malerei in die Fotografie und lässt die Objektivitätsdebatte und den philosophischen Konstruktivismus mitschwingen. Demnach reproduziert die Fotografie nicht eine als absolut gegebene Realität, sondern jede Kameraeinstellung konstruiert durch den Blickwinkel seines Autors eine eigene Wirklichkeit.
Der russische Künstler erbaut durch seine Fotomontagen und Fotografien mit ihren Diagonalen und schwindelerregenden Fluchtlinien nie da gewesene Weltsichten, bewusst gedacht als Beitrag für eine grundsätzlich umkrempelnde soziale Utopie. Die radikal neuen fotografischen Blickwinkel - 90-Grad-Fall- oder Froschperspektive sowie krasse Schräglagen - wollen uns das Sehen von Grund auf neu beibringen. «Wir müssen unser visuelles Denken revolutionieren», schreibt Rodčenko 1928 und weiter 1943: «Mir würde es gefallen, unglaubliche Fotografien zu machen, welche niemand vorher gemacht hat (…), fähig zu erstaunen und zu überwältigen.»
Die kunsthistorisch akkurat recherchierte Retrospektive im MASI Lugano kuratiert von Olga Sviblova, Direktorin des Hauses der Fotografie in Moskau, schärft den Blick auf Rodčenkos Lebenswerk und erweitert unsere Erkenntnis der tieferen Zusammenhänge in seinem Schaffen. Die chronologisch aufgebaute Schau startet mit den Fotomontagen zu Majakovskis Liebesgedicht ‹Pro Eto›, gefolgt von den Titelblättern des LEF (Linksfront der Künste), stellt des Künstlers Umfeld vor und führt schliesslich durch die Bilder der radikalen Perspektiven zu den Fotoreportagen von Fabriken, Sportparaden und darstellenden Künsten. Wie ein Wunder scheint es, dass Rodčenko trotz der scharfen Kritiken und der Aufforderung, seinem «formalistischen, kleinbürgerlichen» Credo abzuschwören, den Stalinismus wie ein Equilibrist überstanden hat. Die Sportsujets fügen sich nur scheinbar dem Diktat des sozialistischen Realismus: Jedes Bild zeugt vom rigorosen Anspruch des Konstruktivisten. Aus der Künstlervereinigung als «Linksabtrünniger» ausgeschlossen, flüchtet sich Rodčenko in die Fantasiewelt des Theaters und des Zirkus. In diesen letzten Fotografien gewinnt der Romantiker in ihm die Oberhand: An Stelle der strengen Geometrie überfluten uns verschwommene Bilder voller Magie. Rodčenko kehrt so in die künstliche Wirklichkeit des Theaters zurück, in der er als Sohn eines Requisiteurs in Sankt Petersburg aufgewachsen ist.