Werkstatt
Der Ausstellungsbesuch mit Spezialöffnung an diesem Montag früh ist knapp zwischen zwei Zügen auf der Vorbeifahrt eingepasst, wie ein aus dem Ablauf des Alltags herausgeschnittenes Stück Zeit.
Ich steige aus dem ersten Mailänder Zug in Lugano aus, stürze zum Taxi. Dieser rast zur Galerie Zellweger. Nun stehe ich vor einer Haustüre. Wo ist denn die Galerie? Jemand ruft durch ein geöffnetes Fenster im ersten Stock. Ich trete ein, noch atemlos: Vollbremse. Freundlich lachende Gesichter. Die Zeit steht still. Katapultiert in eine Blase, in der die gängigen Gesetze von Raum und Zeit aufgehoben scheinen und mit ihnen die Logik einer auf Leistung, Effizienz und Finanzen getrimmten globalen Welt. Ich sehe mich um: es wimmelt von amöbenhaften Gebilden, welche dem Boden entlang zu schleichen scheinen, in langsamen, kaum wahrnehmbaren Bewegungen. Mehrzeller kriechen zu aufschlagenden Milchtropfen, Tausendfüssler schlängeln sich zwischen mehrköpfigen und vielbrüstigen Göttinnen. All diese organischen Gebilde orientieren sich horizontal, wenngleich sich ab und an ein runder Auswuchs wie ein Fühler in Richtung des Himmels reckt, um sich dessen Existenz zu vergewissern. Aber nein, kein Erzählen, keine Darstellung – stellt Martin Schneider im Gespräch richtig – sonst fühlt er sich nicht mehr frei. Die weichen Formen entstehen im Prozess. Das Runde hört nie auf. Im Stein fühlt sich der Münchner Künstler freier als im Holz. Im Granit, im Travertin, im Muschelkalk, im Carrara-Marmor oder im Pflasterstein entwickelt der gelernte Holzbildhauer seine Formen. Sie entstehen während dem Metzen des Steins, in diesem langsam fortschreitenden, eine Ewigkeit dauernden, hypervorsichtigen Abschlagen, Stücklein um Stücklein. Die Steine kommen zu ihm, wie die Pilze zu Lacan. Es sind Findlinge, Stücke aus dem Steinbruch oder Pflastersteine. Martin Schneider weiss, wann „es stimmt“. Warum es stimmt und wann kann er zwar nicht wirklich erklären, aber über Anekdoten verständlich machen. Als der verstockte Steinbruchbesitzer nach sechs Tagen schweigenden Vorübergehens am siebten Tag den hart arbeitenden Bildhauer das erste Mal grüsste oder als die Japanerin sich vor dem Stein niederkniete und diesen mit beiden Händen wortlos berührte, da wusste er: jetzt stimmt’s!
In den Arbeiten von Martin Schneider gibt es kein Oben und kein Unten, kein Positiv und kein Negativ und auch keine gelenkte Richtung. Die mehrzelligen Skulpturen sind geerdet und einen Sockel, welcher die Kunst in höhere Gefilde emporhebt, gibt es auch nicht. Die Steine entziehen sich jeglichen Rastern oder Werten, aber falls wir uns zu ihnen runterneigen, nehmen sie uns freundlich auf in ihren Raum und ihre Zeit.