Perpetuierliches Streben nach dem Stein der Weisen

«All diese Prozesse, durch Versuch und Irrtum geprägt, machen das Material Farbe zur Kostbarkeit» schreibt Mary Imhof. Der steinige, langwierige, manchmal von Verzweiflung und vermeintlichen Niederlagen geprägte Forschungs- und Produktionsprozess, der sich hinter den Kulissen abspielt, lädt das Kunstwerk energetisch auf und scheint in seiner Aura mit.

Verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf die Experimente und Erfahrungen des Entstehenden, rücken die Kunstgegenstände als Endprodukte aus dem Fokus und werden als Meilensteine zu Zeugen der aufeinanderfolgenden Versuche. Mary Imhof hat sich ein klares Ziel gesetzt: Karminrot selber herzustellen und das Farbpulver weiter zu verarbeiten. Asymptotisch nähert sich die Künstlerin mit ihren akribisch festgehaltenen Prozessen dieser Y-Achse an – manchmal mehr, manchmal weniger – ob sie diese je berühren wird, wissen wir nicht. Vielleicht spielt das Erreichen des Ziels weniger eine Rolle, als das Flanken schlagende, Rhythmus und Bewegungsart ändernde, ständige Unterwegs sein. Der Weg ist das Ziel. Schon für Platon ist die Philosophie – die Liebe zur Weisheit – ein Prozess, in dem wir mit Hilfe von Eros perpetuierlich zum absolut Schönen, Guten und zur letzten Stufe der Erkenntnis streben, welche wir – nach höchster Wahrscheinlichkeit – nie erreichen werden. Mary Imhof zerstampft, braut, köchelt, filtriert, extrahiert und sublimiert den Alchimisten ähnlich, auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Der geheime 4-stufige Prozess des alchimistischen «Opus Magnum» zur Umwandlung von Metallen in Gold – in Anlehnung an die 4 Urelemente Wasser, Erde, Luft und Feuer – erinnert an den neoplatonischen Aufstieg zum göttlich Guten. Die Transformation startet von Unten mit dem «Schwärzen» (Nigredo) der «Materia Prima». Der Urzustand der Materie wird gereinigt mittels «Weissung» (Albedo) – das Stadium der Vergeistigung und Erleuchtung. Nach der «Gelbung» (Citrinitas) wird die «Rötung» (Rubedo) anvisiert, das heisst, die Umwandlung der Materie in Gold, gleichgestellt mit der Vereinigung des Menschen mit Gott. Im Mittelalter verschwindet die «Gelbung» und der Prozess wird dreistufig, analog der christlichen Dreifaltigkeit «Trinität».
Rot ist einer der intensivsten Farbtöne: Signalfarbe, Feuer und Blut. Rot steht aber auch für Leidenschaft und Liebe, für Herrschaft und Gerechtigkeit: wir legen den roten Teppich aus und schwingen die rote Fahne. Rot vermittelt Kraft und Begeisterung und im höchsten Stadium steht die Farbe wieder für Erleuchtung: Sophia, die göttliche Weisheit erscheint in Rot.
Die Farbe Rot ist sehr schwierig herzustellen. Lange kannte man nur erd- oder eisengefärbte Rotbrauntöne. In der Antike wurden Rottöne aus der polnischen oder armenischen Kermeslaus hergestellt, daher der Name Karmin (von „Krimidja“, was in Sanskrit „vom Wurm produziert“ heisst). Die spanischen Eroberer in Südamerika entdeckten bald die Cochenilleschildlaus, welche bereits von den Azteken verarbeitet wurde. Ihr zwölf Mal stärkerer Farbstoff wurde ab 1530 zu Preisen gehandelt, welche nur von Gold und Silber übertroffen wurden. Die Spanier sicherten sich die Kontrolle über die wertvollen Tierchen und besassen bald das Handelsmonopol.
Nur die Weibchen des Dactylopius Coccus verfügen über das gesuchte rote Pigment, noch gesteigert in schwangerem Zustand. Sie leben auf dem Feigenkaktus, welcher nur bei speziellen klimatischen Bedingungen überlebt, weshalb die Züchtung der Cochenilleläuse in Europa nur auf den kanarischen Inseln gelungen ist. Das aus den kleinen Tierchen gewonnene Karminrot wurde in der Renaissance von Tintoretto, Vermeer, Rubens und Velasquez benutzt und findet als natürlicher Farbstoff heute noch Verwendung in der Kosmetik- und Lebensmittelindustrie (Lippenstifte, Nagellack, Ramazotti Amaro und Cannella Bellini Frizzante, Wurstwaren, Salami…).
Mary Imhofs opake Leinwände und transparente Gussbilder sind sedimentierte Stadien ihrer Versuchsanordnungen. Die fein lasierten oder kontrolliert gegossenen Rosa-, Magenta-, Bordeaux- und Violett-Töne überschwemmen den Raum sichtlich mit Wärme. Pointillistisch, impressionistisch, minimal oder kreuzschraffiert bearbeitet, bestechen ihre monochromen Werke durch die Vielschichtigkeit und Differenziertheit der Farbabstufungen. Der Rot-Begriff wird in diesen intuitiv einnehmenden Werken in unzählige Nuancen aufgefächert und von Grund auf neu definiert. Die Bilder spiegeln den unermüdlichen alchemistischen Prozess im Hintergrund. Jedes Pigment und somit jedes Bild ist ein Unikum, handgeschöpft und handgemalt, entstanden in monatelangen Recherchen nach antiken Rezepten und dem Versuch ihrer Umsetzung. «Man kocht in einem zinnenen Kessel acht Pfund Regenwasser (…), schüttet acht Unzen fein pulverisierte Kochenille und vier Drachmen fein geriebene Weinsteinkrystallen (…) Dann schüttet man noch sechs Drachmen römischen Alaun dazu (…) und lässt sich das Kochenillen-Pulver zu Boden setzen» (kremer-pigmente.com). In ihrem Arbeitsbuch, notiert Mary Imhof jede einzelne Pigmentherstellung mit den genau benutzten Massen und Verhältnissen der Zutaten und beschreibt gelungene und misslungene Prozesse wie eine Wissenschaftlerin. «Januar 2015: Intensiv rot = Karminannäherung? Was macht es aus, dass ich Rot und nicht Purpur erhalte? Mehr Alaun?» Oktober 2015: «Noch habe ich kein exaktes Mengenverhältnis-Rezept! Nach Welthe: Zu fett wird es glänzend und schwierig mehrschichtig zu malen. Zu mager bleicht die Farbe schneller weg.»
Mary Imhofs ununterbrochenes Suchen und perpetuierliches Experimentieren zeichnen ihren nomadischen Lebensweg und schlagen sich – diesmal in immaterieller und konzeptueller Form – auch in ihrem Berlinprojekt nieder. Während 120 Tagen hat sich die weitgereiste Altdorferin durch die deutsche (Kunst-)Kapitale treiben lassen, täglich vom Ausgangspunkt A – Auguststrasse 83 in Berlin Mitte – startend und wieder zurück. Schon die Peripatetiker um Aristoteles wussten die Gedankenstimulierung des Spazierens zu nutzen und unterrichteten flanierenderweise. Das Gehen rhythmisiert den Denkprozess und treibt die Wahrnehmung an. Die Spazierenden werden stimuliert, sich einzulassen auf Unvorhergesehenes. Der Stadtraum wird zum Bewegungsraum und zum Begegnungsraum. Das zufällige Geschehen findet innerhalb eines vorgesteckten, konzeptuellen Rahmens statt. Ihre Erfahrungen notiert die Künstlerin allabendlich in abstrakten Parcourszeichnungen.
Das stetige Unterwegssein schlägt sich in Mary Imhofs Werk im Spazieren, im Forschen, im Experimentieren und im Notieren nieder. Diese «Materia Prima» transformiert die Urner Künstlerin durch komplexe al-chemistische Prozesse in monochrome Bilder. Der Stein der Weisen oder die Welt gesehen durch die rosa Brille?



10.12.16-8.1.17
Mary Anne Imhof
Haus für Kunst Uri


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maryimhof.ch

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Mary Anne Imhof, Ephemer, 2016, studio view (Foto: Barbara Fässler)
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Mary Anne Imhof, Ephemer, 2016, studio view (Foto: Barbara Fässler)

Mary Anne Imhof, Notebook (Foto: Barbara Fässler)
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Mary Anne Imhof, Notebook (Foto: Barbara Fässler)

Mary Anne Imhof, Selfmade Pigments from Cochineal (Foto: Barbara Fässler)
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Mary Anne Imhof, Selfmade Pigments from Cochineal (Foto: Barbara Fässler)

Cochineal, Dactylopius Coccus
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Cochineal, Dactylopius Coccus