Mary Anne Imhof – Mí Jardín # 1-8. Genius loci 3
Wo sie malt, da ist nichts. Wo sie nicht malt, da erscheint eine Form. Die Leerstelle bezeichnet exemplarisch ein Exemplar oder besser eine körperlose und zweidimensionale Idee eines Exemplars. 143 weisse Schatten von 143 Pflanzen. Subtile und haargenaue Umrisse der kanarischen Flora, welche die Künstlerin in 12 Jahren Arbeit mehrheitlich in ihrem Garten in Gomera Stück für Stück angepflanzt und gepflegt hat.
Die Aquarellfarben stellt Mary Imhof selber her, mit auf der Insel gefundenen und aufbereiteten Pigmenten. So stammt das Dunkelgrau der Pflanzenserie vom Vulkangestein und die Farben der Streifen unter den weissen Schatten von selbst hergestellten Erd- und Mineralpigmenten aus der Gegend. Jede Farbe des Streifens bezieht sich auf die Beschaffenheit der darüber dargestellten Pflanze und repräsentiert die Farbe ihrer Blüten, ihres Saftes, ihres Stengels oder der Blätter.
„Mí Jardín“ hat bis zur Vollendung der glasklaren Kategorisierung unterschiedliche Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse durchgemacht. Die Künstlerin hat ihren Garten in Gomera angelegt. Sie hat die Pflanzen ausgewählt, und immer wieder neu im Gartenperimeter gepflanzt. Für die vorliegende Arbeit wählte Mary Imhof die Pflanzen aus, welche sie besonders interessierten. Jede Auswahl impliziert ein Weglassen. Jede Kategorie eine bewusste Entscheidung.
Die Künstlerin musste den richtigen Moment abpassen, in dem der Schatten in die richtige Richtung projiziert wurde, damit die Begrenzungslinie klar und scharf sichtbar wurde. Die Fotografie wurde dann auf das Büttenpapier projiziert und die Pflanzenkontur nachgezeichnet. Schliesslich hat sie den Umraum mit dem Vulkangrau ausgemalt.
Durch die radikale Entmaterialisierung der Pflanzenabbildungen in Papierleerstellen, welche einzig durch die Umrisse des gemalten grauen Hintergrunds erscheinen, werden diese zu immateriellen Geistern, welche Plato’s Fluch über die Bilder wieder aufblitzen lässt. Bilder sind demnach für ihn Kopien der Kopien der Ideen. Fast nichts bleibt mehr übrig. Der Abklatsch eines Abklatsches. Mary Imhof inszeniert auf flagrante Art und Weise Plato’s Negativurteil. Ihre Abbildungen sind leere und flache Negative der Pflanzenformen.
Aber Mary Imhofs Pflanzengeister bilden umgekehrt gerade durch ihre radikale Entmaterialisierung die Seelen der Pflanzen ab. Sie schafft subjektive Kategorien aus dem mit eigenen Händen geschaffenen Garten: Kräuter, Blumen, Sträucher, Fruchtbäume und Sukkulenten. Ihre Kategorisierung erinnert an Karl Blossfeldt, der Pflanzen frontal abgebildet hat für den Kunstunterricht oder an August Sander, der die „Menschen des 20. Jahrhunderts“ systematisch in Kategorien frontal fotografiert hat, als wichtigster Vertreter der «Neuen Sachlichkeit» in den 20er Jahren der Weimarer Republik.
Auf markante Weise unterstreicht die Bilderserie von Imhofs Garten auch das Paradox, welches in jeder Abbildung enthalten ist. Das Sujet ist gleichzeitig anwesend – indem es abgebildet wird – und abwesend, da der Gegenstand nicht mehr im Hier und Jetzt vorhanden ist. «Ceci n’est pas une plante», frei nach Magritte. Die weissen Schatten geben durch ihre platte Silhouetten-Form und in Abwesenheit einer dreidimensionalen Darstellung mittels Hell-Dunkelmodulation keine ontologische Illusion vor. Die Abwesenheit der Pflanzen könnte nicht brutaler unterstrichen werden. Diese «Löcher» fungieren als Auslöser für eine präzise, vielseitige und differenzierte Formstudie. Gerade im Vergleich, in dieser reduzierten bildnerischen Umsetzung der weissen und grauen Flächen, sticht die Vielheit und der Reichtum der Naturformen ins Auge.
Die Malerin spürt und ehrt so auf unprätentiöse Weise den «Genius Loci», den Schutzgeist dieses Ortes auf der kanarischen Insel Gomera und übersetzt dessen für Höchstsensible spürbare Vibrationen bildnerisch. Diese Emanationen übertragen und schaffen gleichzeitig die Identität und die Befindlichkeit dieses magischen Ortes immer wieder von Neuem.
Mary Imhof ist eine systematische Forscherin: zu jeder Pflanze hat sie Namen, Provenienz und Wirkung oder Nutzen minutiös recherchiert. Kategorien bilden und Objekte in Kategorien einordnen ist (frei nach Kant) schon an sich ein Akt der Erkenntnis. Mary Imhofs Herbarium ist ein systematisch abstraktes Werk, eine enorme Fleissarbeit unglaublicher Schönheit, in der von A bis Z alles selbst geschaffen wurde. Der Garten, die Pflanzen, die Pigmente, die Aquarellfarben, die Malerei. Einzig das Papier lässt sie Fabriano schöpfen…