Lugano: Meret Oppenheim – Rollenspiel im Künstlernetzwerk
Die Retrospektive im MASILugano enthüllt Meret Oppenheims Werk als Teil eines mehrschichtigen Dialogs mit ihren Künstlerfreunden und als Inspirationsquelle folgender Generationen. Mit Hilfe akkurater Gegenüberstellungen untermalt die Schau Oppenheims Bedeutung als Motor in der jüngeren Kunstgeschichte.
„Der Geist ist androgyn“ und „Die Kunst hat kein Geschlechtsmerkmal“(1): mit diesen Worten hat Meret Oppenheim 1974 ihre Haltung zur eigenen Geschichte und Kunst geklärt. Die Werkschau in Lugano versucht nun postum mittels präzis recherchierten Gegenüberstellungen und vertieften Analysen die Rolle der Basler Künstlerin während ihren Anfängen im Paris der 30er Jahre und ihrem späteren Werk in ein korrekteres Licht zu rücken. Der Mythos der „femme-enfant“, Inspirationsmuse und Objekt des Begehrens der 20 Jahre älteren Surrealisten weicht dem Bild einer autonomen, brillanten und ironischen Poetin, deren vielseitigen Beziehungen mit den surrealistischen Künstlern Anlass zu einem reichen und formal vielseitigen Kunstdialog boten. Die thematisch aufgebaute Ausstellung wiederspiegelt Oppenheims Eklektizismus und nimmt ihre Werkmotive auf: Nahrung und Sexualität, Körper und Materie, Träume und Fabeln, Himmel und Erde. Der stete Bezug von Meret Oppenheims Werken mit der vorhergehenden und der nachfolgenden Künstlergeneration ist weder als Kopieren noch als Zitieren einzuordnen, sondern entpuppt sich als fruchtbarer Gedankenaustausch, als ein Aufnehmen und aus einer unterschiedlichen – sehr eigenen – Position formal und interpretativ Weiterentwickeln der Topoi.
So hat die Künstlerin auf die mechanischen Zahnräder in Max Ernsts „Vademekum mobile“ mit einer Zeichnung geantwortet, welche formal die Kreise aufnimmt, sie aber lockerer auf der Fläche streut und ihnen eine ganz andere Bedeutung gibt: „Leute auf der Strasse“. Die Rädchen stellen Individuen eines sozialen Systems dar, welche sich auf der Bildfläche tummeln, interagieren oder sich verstecken. In Meret Oppenheims Geschenk an Marcel Duchamp, dem Objekt „Bon Appetit Marcel (The White Queen)“ wird ein weiblicher, aufgeschlitzter Körper aus Brotteig auf einem Teller über einem Schachbrett liegend zum Essen mit Messer und Gabel angeboten. Der bissige und selbstironische Unterton ist nicht zu übersehen: Die weisse Königin – die mächtigste und einzige weibliche Figur – wird geopfert und zum Verschlingen freigegeben. Im Portrait „Érotique voilée“ von Man Ray werden Meret Oppenheims weibliche Geschlechtsmerkmale vom Rad der Druckpresse verdeckt indessen der Griff kaum wahrnehmbar als männliches Geschlechtsteil erscheint. Die Künstlerin erhebt den mit Druckerschwärze bemalten Arm in Abwehrstellung vor den Kopf. Die Bilderserie entsteht als Gemeinschaftsarbeit, Meret Oppenheim beteiligt sich aktiv an der Bildgenerierung und stellt sich selber und ihre Idee von Kunst dar: ein androgynes und gleichberechtigtes Zusammenspiel des weiblichen und männlichen Anteils.
(1) Dankesrede für den Kunstpreis der Stadt Basel, 1974