Metamorfosi – Lasciate che tutto vi accada

Schon die Ontologie von Aristoteles setzt eine im Keim angelegte Potenz voraus damit sich eine Veränderung im Akt verwirklichen kann. Leben ist Transformation: im Werden und im Sterben, im Aufbau und im Abbau…

Die Natur spielt es uns vor: dort wo biologisch vorprogrammierte Prozesse sich mit dem Zufall ein Stelldichein geben, verwandeln sich die Körper unvorhersehbar, unwahrnehmbar und versetzen uns ständig ins Staunen. Was aber, wenn das Verwandlungspotential die Grenzen der bekannten Formen und der Sprache überhaupt überschreitet und in posthumane Fantasiewelten neuer Transzendenz führt, zu undefinierbaren Körpern, wundersamen Gattungen und enigmatischen Wesen? Die katalanische Kuratorin und Leiterin des Instituts Fine Arts an der FHNW in Basel, Chus Martinez, will mit ihrer Ausstellung keine Antworten geben, sondern Fragen stellen: „Und wenn ich eine Blume sein könnte?“ oder „Ist in der digitalen Ära die performative Kraft einer metamorphen Transformation noch möglich?“ Sieben der geladenen Kunstschaffenden haben mit site-spezifischen Werken auf Martinez Inputs reagiert und schreien über die Materialität ihrer rätselhaften Figuren und Traumwelten Fragen der Postidentitäten in den Raum. Obwohl die meisten Werke erstaunlicherweise aus statischen Kunstformen wie Malerei oder Skulptur bestehen und ausser einem Video und einer Soundinstallation keine zeitbasierten, transformationsfähigen Medien ausgestellt sind, fungiert der nicht einfach zu bespielende, schlauchartige Ausstellungsraum, die „manica lunga“ des Castello di Rivoli, als Zeitachse. Die durch ihn schlendernden Betrachter erleben über die Kunstwahrnehmung ihrer sich bewegenden Körper die Metamorphose phänomenologisch am eigenen Leib. So mutieren sie selber zu gigantischen, dem Boden nachschleichenden Stoffpflanzen der Performancekünstlerin Ingela Ihrman oder schlüpfen in die Haut der kopflos im Raum schwebenden Fabelwesen von Mathilde Rosier. Sie stürzen sich in die Mythen fallender Pferde und brennender Menschenopfer in den Scherenschnitten von Lin May Saeed oder verlieren sich in den dichten Bleistiftkritzeleien von Ana Soliman. Durch seinen Zählrahmen mit Brotlaiben verweist Edoardo Navarro das Publikum auf die lebenswichtigen metamorphen Prozesse der Mathematik und der Ernährung. Im Innern des begehbaren Stoffuniversums des Berners Reto Pulver wird das Publikum durch mysteriöse Stimmen in den letzten Raum gelockt, welcher alle transzendenten Energien noch einmal bündelt. Auf im Kreis angeordneten Hockern lauschen die Besucher den in albanische, iso-polifonische Gesänge umgesetzten Texten über die Architektur des Verlustes und fragen sich, ob und wie viel Entscheidungsbeteiligung ihnen zustehe im Prozess der Umwandlung und ob sie wirklich alles mit sich geschehen lassen müssen.



6.3.-24.6.2018

Castello di Rivoli, Turin


Published in
Kunstbulletin 6/2018

Ausstellungsansicht, Metamorfosi, Castello di Rivoli, Ingela Ihrman, The Giant Hogweed, 2016 (Foto: Barbara Fässler)
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Ausstellungsansicht, Metamorfosi, Castello di Rivoli, Ingela Ihrman, The Giant Hogweed, 2016 (Foto: Barbara Fässler)

Ausstellungsansicht, Metamorfosi, Castello di Rivoli, Mathilde Rosier, Blind Swim 9 and 10, 2016/2017 (Foto: Barbara Fässler)
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Ausstellungsansicht, Metamorfosi, Castello di Rivoli, Mathilde Rosier, Blind Swim 9 and 10, 2016/2017 (Foto: Barbara Fässler)

Ausstellungsansicht, Metamorfosi, Castello di Rivoli, Ingela Ihrman, Amorphophallus titanium, 2013 (Foto: Barbara Fässler)
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Ausstellungsansicht, Metamorfosi, Castello di Rivoli, Ingela Ihrman, Amorphophallus titanium, 2013 (Foto: Barbara Fässler)

Ausstellungsansicht, Metamorfosi, Castello di Rivoli, Eduardo Navarro, Celestial Numbers, 2018 (Foto: Barbara Fässler)
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Ausstellungsansicht, Metamorfosi, Castello di Rivoli, Eduardo Navarro, Celestial Numbers, 2018 (Foto: Barbara Fässler)

Ausstellungsansicht, Metamorfosi, Castello di Rivoli, Simon Battisti, Leah Whitman-Salkin, Äbäke, I Have Left You The Mountain, 2016 (Foto: Barbara Fässler)
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Ausstellungsansicht, Metamorfosi, Castello di Rivoli, Simon Battisti, Leah Whitman-Salkin, Äbäke, I Have Left You The Mountain, 2016 (Foto: Barbara Fässler)