La verità di Michelangelo Pistoletto

Ascona — La ‹Verità di Michelangelo Pistoletto› oder ‹Die Wahrheit des M. P.› auf dem Monte Verità trifft präzis eine konzeptuelle und denkerische Nähe, die weit über das Wortspiel hinausweist.

Eine treffendere Location für die Retrospektive mit vierzig Werken aus 63 Schaffensjahren eines der bedeutendsten Arte Povera Künstler kann man sich kaum vorstellen. Denn die ‹Wahrheit des Michelangelo Pistoletto›, so subjektiv der Titel tönen mag, ist eine Wahrheit, die sich seit den ersten Werken Anfang der Sechzigerjahre eben nicht als auf das Subjekt und Ego des Künstlers konzentrierte versteht. Im Gegenteil bemüht seine Wahrheit sich, die eigenen Grenzen und jene der Kunst aufzubrechen und versteht diese als einen sozialen und kollektiven Prozess mit dem Ziel, in gesellschaftliche Entwicklungen einzugreifen in Richtung einer umweltverträglichen Welt der Differenz und Inklusion. Themen wie Naturnähe, Sozialverträglichkeit oder Basisdemokratie beschäftigten schon die Pioniere, die Anfang letzten Jahrhunderts auf dem Monte Verità mit neuen Methoden des Zusammenlebens, der freien Liebe, der Freikörperkultur und des Veganismus experimentierten.
Die chronologisch aufgebaute Ausstellung im Museo Comunale in Ascona zeigt klar verständlich die Entwicklung des Aspekts von ‹Relational Art› in Pistolettos Werk auf, von den Quadri specchianti, über die Aktionen bis zu den sozialpolitischen Projekten. In den spiegelnden Bildern, in denen eine Figur inkludiert ist, reflektieren sich zugleich die aktuelle Raumsituation und die Betrachtenden. Die Umwelt wird somit integraler Teil des Kunstwerks. 1967 wird Pistolettos Zeitungskugel in einer kollektiven Aktion durch die Strassen von Turin gerollt. 1968 ruft er mittels eines Plakats dazu auf, sich mit ihm an der Biennale von Venedig zu beteiligen. 1994 entsteht das ‹Progetto Arte›, das die Grenzen zwischen den Kunstdisziplinen herunterzureissen sucht und daraus entwickelt sich 1998 die ‹Cittadellarte›. Das Projekt in einer Fabrik in Biella konzentriert sich auf die interdisziplinäre Vernetzung und Forschung von Akteuren aus unterschiedlichen Gebieten der Wissenschaft oder der Kunst. ‹Love Difference› schliesslich ist ein sozialengagiertes Ideenlabor, das den Mittelmeerraum vernetzt. Auf dem Monte Verità und beim Castello San Materno hat Pistoletto zum Anlass der Ausstellung je ein ‹Terzo Paradiso› im öffentlichen Raum geschaffen: eines aus Stein und eines aus Sträuchern. Das um einen Kreis ergänzte Unendlich-Zeichen soll den Widerspruch zwischen Natur und Technologie auflösen. Die Installation beim Castello wird über den Sommer mit Performances von Theater- Tanz- und Performancekünstlern aus dem Locarnese belebt: Kunst als interdisziplinäres Netzwerk mit dem Ziel der Weltverbesserung.



29.5.-26.9.2021
Ausstellung und Landart
Museo Comunale d’Arte Moderna, Ascona


Published in
Kunstbulletin 9/2021

Michelangelo Pistoletto (Foto: Barbara Fässler)
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Michelangelo Pistoletto (Foto: Barbara Fässler)

Michelangelo Pistoletto (Foto: Barbara Fässler)
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Michelangelo Pistoletto (Foto: Barbara Fässler)

Michelangelo Pistoletto mit ‹Sfera di giornali (Kugel aus Zeitungen)›, 1966–2017, gepresste Zeitungen, 100 x 100 cm. Foto: A. Lacirasella
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Michelangelo Pistoletto mit ‹Sfera di giornali (Kugel aus Zeitungen)›, 1966–2017, gepresste Zeitungen, 100 x 100 cm. Foto: A. Lacirasella

Love Difference, Ausstellungsansicht; auf den Fotos: Il Terzo Paradiso. Foto: Alexandre Zveiger
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Love Difference, Ausstellungsansicht; auf den Fotos: Il Terzo Paradiso. Foto: Alexandre Zveiger

Michelangelo Pistoletto, Il Terzo Paradiso, 2021, Castello San Materno Ascona. Foto: Alexandre Zveiger
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Michelangelo Pistoletto, Il Terzo Paradiso, 2021, Castello San Materno Ascona. Foto: Alexandre Zveiger