Nähe und Distanz

Wie wäre es, wenn Walter Benjamins Definition der Aura durch Nähe und Ferne zur Analyse der digitalen Kommunikationstools angewandt würde? Was machen diese neuen Instrumente mit uns, unserem Selbstverständnis, unserem Selbstbild und jenem der Anderen? Wie verändert sich unsere Interaktion, unser Dialog? Was geschieht mit unserem Körper und seinen Kompetenzen? Im nachfolgenden Essay möchte ich meine Beobachtungen zur Phänomenologie der Kommunikation und Interaktion über digitale Videoplattformen darlegen. Die Überlegungen Walter Benjamins zu Spur und Aura dienen dabei als Ausgangspunkt für die Möglichkeit eines sinnstiftenden Transfers in durch die Coronapandemie veränderte Selbstverständnisse, Kommunikationsweisen und Wahrnehmungen von Nähe und Distanz. Die ersten vier Dimensionen, drei räumliche und die Zeit sind hier neu zu denken im Zusammenhang mit der digitalen fünften Dimension, welche unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit in radikal andere Dimensionen überführt.

Spur und Aura.
Walter Benjamin beschreibt in seinem Passagen-Werk (1982) die Definition von Spur und Aura. Im Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» (2010) unterscheidet die Aura das Originalkunstwerk von seinem reproduzierten Alias. Die Aura wird einerseits zum Charakteristikum des einzigartigen Kunstwerks, fehlt aber andererseits dem industriell in Serie vervielfältigten Objekt.

«Spur und Aura.
Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterliess.
Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft.
In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.» (1982, Seite 560)

Ich wage eine Hypothese ausgehend von Benjamin, indem ich Spur mit Analog und Aura mit Digital tausche:

Analog und Digital.
Analog ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was es hinterließ.
Digital ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was es hervorruft.
Im Analogen werden wir der Sache habhaft, im Digitalen bemächtigt die Sache sich unser.

Digitale Begegnung.
Wir sehen ein bewegtes, live übertragenes Bild einer gleichzeitig stattfindenden Situation, übersetzt in einen zweidimensionalen Film. Es werden viele dieser «Filme» kachelförmig auf der Bildschirmfläche verteilt. Wir sehen demnach viele verschiedene Gleichzeitigkeiten, Abbildungen sehr unterschiedlicher Räume und Personen von der Erscheinung ihres Bildes her, aber auch von ihrer geografischen Verortung her.
Wir sehen eine Neuordnung einer in Rechtecken zerschnittenen Wirklichkeit, welche nach Zufallslogik konstruktivistisch, streng collageartig zusammengesetzt wird.

Digitales Kachelbild.
Das digitale Kachelbild vermittelt eine Collage in Direktübertragung, Live-Bilder unterschiedlicher Räume aus unterschiedlichen Orten, Ländern, Kulturen. Es ist eine Spur – wie jedes Bild – und ist befangen im Paradox jeden Bildes (vgl. Roland Barthes, 1989): Präsenz einer Absenz, Absenz einer vergangenen Präsenz. Indem wir das Bild betrachten, wird klar, dass der abgebildete Gegenstand nicht hier ist, sondern anderswo. Im Unterschied zur Fotografie, spielt aber hier der Faktor Zeit in einer Gleichzeitigkeit der Videoübertragung und der aktuellen Präsenz am Ort in der Distanz eine wichtige Rolle. Die digitale Übertragung hält die Zeit also nicht an wie die Fotografie. Sie befindet sich strengstens in der Gegenwart. Im Jetzt, nicht hingegen im Hier.

Teletransport.
Sie ist ein zeitgleicher, virtueller Teletransport durch Lichtstrahlen auf einer zweidimensionalen Ebene. Das dargestellte Objekt – der Raum – und das Subjekt – die Person – befinden sich also zeitgleich an einem anderen Ort, aber in dieser räumlich-körperlichen Disposition, welche durch die digitalen Maschinen – Kamera des Computers – übertragen wird. Noch spezieller ist das Zusammenpferchen all dieser auf gleichgrosse Rechtecke geschrumpften Raum- und Personenansichten. Es ergeben sich neue Geografien, Wirklichkeits-Cut-Ups. Was macht diese plötzliche, neue Nähe zwischen den Räumen der sich darin befindlichen Personen aus? Was entsteht für eine virtuelle Nähe dazwischen? Ein Hyperhic.

Ist die Nähe spürbar?
Was macht diese Nähe der Personenkacheln untereinander mit uns? Was entsteht bei dieser Annäherung? Wie «spüren» sich die anwesend und doch abwesend Seienden, wenn sie random durchmischt, absolut zufällig neben Unbekannten oder Bekannten hingeworfen werden? Und die Tatsache, dass wir selbst uns inmitten all der Kacheln ebenfalls als Spiegelbild sehen? Von außen, als handelte es sich um jemand anderes? Wir verdoppeln unsere Präsenz. Wir sind gleichzeitig in Präsenz vor dem Bildschirm Beobachtende und als live-übertragenes Video, also als dargestelltes Subjekt vor uns im Bildschirm. Wie gehen wir mit dieser Verdoppelung um? Inmitten all der Räume und Menschen mitsamt ihren Innenausstattungen – oft Bücherwände –, analog aus der ganzen Welt oder einem interessegeleiteten Ausschnitt derselben. Neuerdings werden auch digitale Hintergründe hinter die Person montiert. Mit unterschiedlich überzeugendem Resultat. So habe ich einmal eine Frau gesehen, deren Kopf kontinuierlich weggehackt wurde von ihrem Körper, je nach Bewegung. Ich habe sie gefilmt.

Paradoxe Situation.
Es entsteht in der Nähe- und Distanzproblematik der digitalen Übertragung eine paradoxe Situation, welche über jene jeder Abbildung hinausgeht. Einerseits kann ich mich von überall auf der Welt, wo eine gute Internetverbindung besteht, zu einer digitalen Konferenz zuschalten. Das gibt mir nicht nur Bewegungsfreiheit, sondern es entsteht auch Nähe, wo ich eigentlich weit entfernt bin. Ich kann also Menschen aus verschiedenen Kontexten zusammenbringen zum Austausch. Ich kann Spezialist:innen aus der ganzen Welt in den Unterricht holen. Ich schaffe so Nähe, wo eigentlich Distanz ist. Auch Distanzunterricht schafft Nähe, wo eigentlich Distanz ist. Die digitale Übertragungssoftware bringt zusammen, was getrennt ist. Ist es eine Ersatzhandlung? Der digitale Ersatz von körperlicher Nähe? Es ist bestimmt eine kalte Nähe. Doch getrennt durch den Bildschirm, umgestaltet durch die digitale Ästhetik der medialen Übersetzung in Live-Videos in Kachelform. Eine künstliche Nähe also. Es bleibt ein Unbehagen, trotz der undiskutierbaren praktischen Genialität des Mediums.

Nah und doch so fern.
Schauen, aber nicht anfassen. Es ist klar der sinnlich-materielle Wert, der uns abhandenkommt. Der klammheimlich verschwindet, auch von der Auseinandersetzung. Er scheint Wahrnehmung und somit Wichtigkeit einzubüßen. Vielleicht wird mit der Zeit sogar unsere dreidimensionale Wahrnehmungsfähigkeit vermindert werden. Wird sich unser Hirn umformen nach Generationen, welche in einen zweidimensionalen, also flachen Bildschirm starren? Verlieren wir mit der Zeit die Fähigkeit einen dreidimensionalen Raum wahrzunehmen und uns darin zu orientieren? Es ist bekanntlich das Hirn, welches die räumliche Wahrnehmung aus zwei zweidimensionalen, um 180 Grad umgedrehten Bildern zusammenschustert. Sehen wir ständig nur zweidimensional, könnte die Natur über Generationen mutieren. Für mich eine erschreckende Vorstellung.

Quellen:
- Walter Benjamin: Das Passagen-Werk in zwei Teilbänden; herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp-Verlag, 1982, S.560 (M 16 a, 4)
- Benjamin, Walter (2010): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
- Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Übers. Dietrich Leube. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.



1.11.2023
Publikation: Auf der Suche nach der fünften Dimension – Kollaboration und Digitalität in der Kunstpädagogik
Transcript Verlag, 2023


Published in
OpenAccess Transcript Verlag

Barbara Fässler,
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Barbara Fässler, “Spur”, 2021, Digitalzeichnung

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Barbara Fässler, “Aura”, 2021, Digitalzeichnung

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Barbara Fässler, “Analog”, 2021, Digitalzeichnung

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Barbara Fässler, “Digital”, 2021, Digitalzeichnung

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Barbara Fässler, “Gleichzeitigkeiten”, 2021, Digitalzeichnung

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Barbara Fässler, “Kachelbild”, 2021, Digitalzeichnung

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Barbara Fässler, “Ceci n’est pas une pomme”, 2021, Digitalzeichnung

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Barbara Fässler, “Teletransport”, 2021, Digitalzeichnung

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Barbara Fässler, “Hyperhic”, 2021, Digitalzeichnung

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Barbara Fässler, “Das doppelte Lottchen”, 2021, Digitalzeichnung

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Barbara Fässler, “Zweidimensional”, 2021, Digitalzeichnung