Past / Present

Keine hundert Meter von den luganeser Privatbanken entfernt befindet sich die Galerie Michela Negrini in einem ehemaligen Garagebüro. Der Eingangsbereich präsentiert sich als wildes Gemisch aus Depot, Showroom und Arbeitsraum. Die Stimmung von Verlassenheit und Verunsicherung durch die lange Zwangspause sind deutlich spürbar. Wie weiter?

Woher die Kraft nehmen, der einst eingeschlagenen konzeptuellen Linie treu zu bleiben? Ein risikoreiches Unterfangen. Die Galeristin hat sich entschieden, die dramatischen Ereignisse denkerisch und kuratorisch zu verarbeiten. Die Zeitwahrnehmung hat sich verschoben. Ein Jahr lang hat alles angehalten. Die Gegenwart hat sich fast unanständig ausgebreitet, hat uns festgehalten und in einen penetranten Loop eingesperrt. Vergangenheit und Zukunft sind unliebsam in die Ferne gerückt. Wie setzen sich vier Künstler*innen aus Italien, Frankreich und den USA mit der veränderten Zeitempfindung auseinander? Elisabetta Benassi durchbohrt mit einem Palmwedel – einem Siegessymbol – das Buch von Ayn Rand, in dem das souveräne Individuum als Mythos des Liberalismus gefeiert wird, gegen die Interessen der Gemeinschaft. Individuelle Rettung versus kollektive Katastrophe. Gleich vor Benassis Wandinstallation liegen Liliana Moros weiss bemalte gigantische Granatäpfel aus Keramik, kombiniert mit einem getrockneten Mispelblatt, zentral am Boden. Die unförmigen Kugeln mit einem Durchmesser von etwa einem halben Meter erinnern stark an die , die runden Bronzeskulpturen von Lucio Fontana. Die Künstlerin erweitert die Raummeditation um den Faktor Zeit, indem sie sich für die spezifische Zeit des Materials interessiert, vom Formen über den Trocknungsprozess bis zum Brennen der Tonfiguren. Während die Granatäpfel den Leben-Tod-Zyklus symbolisieren, bedeutet der Mistelbaum Lebenskraft und Energie. In seinen Werken untersucht der französische Künstler Melik Ohanian das Zeitmoment in der bildnerischen Darstellung der Fotografie. In seinen hält er den Übergang und somit die Zeitspanne zwischen dem flüssigen und dem festen Zustand von Cesium fotografisch fest. Der Jüngste der vier Künstler, Mnamsal Siedlecki, hat hölzerne ex voto Statuen in Silber gegossen. Das Silber stammt aus den nicht verwendbaren Silbermünzen in der Fontana di Trevi in Rom, welche er im Vatikan erstanden hat. Diese Ausstellung plädiert dafür, dass uns die ausgedehnte und verlangsamte Zeit der (Kunst)erfahrung – welche wir in diesem Jahr gewonnen haben – erhalten bleibe!



20.5.-10.9.2021
Ausstellung
Galerie Michela Negrini


Published in
Kunstbulletin 7-8/2021

Melik Ohanian, Liliana Moro, Mnamsal ­Siedlecki, Elisabetta Benassi, Melik Ohanian (v.l.n.r.). Ausstellungsansicht Galerie Michela Negrini, 2021 © ProLitteris. (Foto: Barbara Fässler)
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Melik Ohanian, Liliana Moro, Mnamsal ­Siedlecki, Elisabetta Benassi, Melik Ohanian (v.l.n.r.). Ausstellungsansicht Galerie Michela Negrini, 2021 © ProLitteris. (Foto: Barbara Fässler)

Elisabetta Benassi, Atlas Shrugged, 2018 – 2021. Courtesy die Künstlerin, Magazzino, Roma und Galerie Michela Negrini. (Foto: Barbara Fässler)
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Elisabetta Benassi, Atlas Shrugged, 2018 – 2021. Courtesy die Künstlerin, Magazzino, Roma und Galerie Michela Negrini. (Foto: Barbara Fässler)

Liliana Moro, Still life, 2020, Courtesy die Künstlerin, Galerie De Foscherari und Galerie Michela Negrini. (Foto: Barbara Fässler)
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Liliana Moro, Still life, 2020, Courtesy die Künstlerin, Galerie De Foscherari und Galerie Michela Negrini. (Foto: Barbara Fässler)