Sandro Chia
„Die Dinge geschehen natürlicherweise, sonst ist es Konzeptkunst, eine Hirnangelegenheit, da interveniert nur ein Teil von uns. Die Hand, die Länge des Armes, die sich beschmutzenden Hände, das Auge, (…) sind nicht da. (…) Die Kunst muss ein bisschen dumm sein. Wunderbar, dieser Moment von Dummheit, Unzulänglichkeit…“ Mit diesen Worten erklärt Sandro Chia sein künstlerisches Credo im You-Tube Interview von 2017 mit Marco Aruga.
Der radikale Bruch mit der vorgängigen Konzeptkunst, welcher die von Achille Bonito Oliva geprägte Transavanguardia mit dem Neoexpressionismus und der Graffitykunst verbindet, sticht in der Retrospektive des florentiner Künstlers in der Casa Rusca in Locarno stark ins Auge. So sprühen Chias Werke nur so von männlicher Muskelkraft: in ihrer Darstellungsart wie in den abgebildeten Sujets. In der Monumentalität der Bilder wird der Malakt selbst zu einem Kraftakt und die etwas unproportioniert dargestellten Körper – wohl Selbstbildnisse und Metaphern für die Figur des Künstlers – strotzen nur so von Manpower und gleichen so den Helden- und Propagandadarstellungen aus den 30-er Jahren. Je länger man die Malereien betrachtet, desto mehr Zitate aus der Kunstgeschichte kommen zum Vorschein: griechischer Pan, liegender Römer, mit Pfeilen durchbohrter Heiliger Sebastian, Dürers Melencolia, Picassos Akrobaten, Legers Arbeiter. Die italienische Transavanguardia läutet Ende siebziger Jahre die Postmoderne in der Malerei ein. Eigentlich ein Hinweis darauf, dass diese „Back-to-Painting-Maler“ doch nicht so kopf- und konzeptlos vor sich hin wurstelten, wie Chia behauptet, denn zum Zitieren braucht es präzises Vorwissen.
Schweift die Aufmerksamkeit vom Inhalt auf die Form, von der Figur zum Hintergrund, ist der Wiedererkennungseffekt aller möglicher Malereiströmungen nahezu überwältigend. Die Felsbildungen und Gebäude erinnern an Giotto, die geometrisch analysierten Landschaften evozieren Cezanne, die kubistischen Blöcke zitieren Braque, die dekorativen Muster imitieren Matisse und die freischwebenden Abstraktionen ähneln Kandinsky. Die knalligen Farben erinnern an den Fauvismus und den Expressionismus und werden durch ständiges Nebeneinandersetzen von Komplementärfarben wie rot und grün oder violett und gelb per Simultankontrast so verstärkt, dass die Hintergründe in ihrer Wirkung hervorschnellen und die Figuren fast erdrücken. Die Bilder erscheinen so dicht vollgeklatscht, dass kein freier Zentimeter übrig bleibt und es einem fast den Atem verschlägt. „Bête comme un peintre“, „Bad Painting“, manieristische Übertreibung, barocke Überladung oder gelehrte Zitierkunst? Die Entscheidung fällt nicht leicht.