Yuri Ancarani – Lascia stare i sogni
Mailand — Marmorsteinbruch, Hochsicherheitsgefängnis, Fussballstadion – so unterschiedlich Yuri Ancaranis Dokumentarfilme thematisch sind, so ähnlich sind deren Ausgangslagen und deren ästhetische Form.
Jede Kameraeinstellung ist eine Fotografie höchster Präzision, was die Komposition, die Tiefenschärfe und die Farbgebung angeht. Die Kamera ist meist fix, die Einstellungen eher lang, die Schnitte langsam. Im fotografischen Bildausschnitt bewegt sich plötzlich und fast unmerklich ein Chirurgenmesser, eine schwarze Ziege, der Arm eines Baggers, das Magnetlesegerät eines Wärters. Yuri Ancarani (*1972) denkt die Zuschauenden mit, er lässt ihnen Zeit zur Betrachtung. Sie sollen eintauchen in den Fluss der fantastischen Realität, welche zugedeckt vor unseren Füssen liegt.
Nun zeigt der Padiglione d’Arte Contemporanea in Mailand eine Übersicht über zwanzig Jahre von Ancaranis Dokumentarfilmproduktion. Mit einer aufwändigen Innenarchitektur ist das PAC in sechs Videosäle verwandelt worden, in denen die filmische Entwicklung des Videokünstlers aus Ravenna nachvollzogen werden kann. An der Fensterfront, welche zum Park weist, laufen auf acht Videoscreens die ‹Ricordi per moderni» (Erinnerungen für Moderne) – Videoschnipsel, aufgenommen an der «Riviera romagnola», die Industriezonen oder die Strände der Adria, Sümpfe oder Hauspartys zeigen. Daneben veranschaulichen drei Trilogien die gesellschaftliche Neugierde und die ästhetische Sorgfalt des Autors: Die erste Trilogie aus den Jahren 2010–2012 ‹La malattia del ferro› (Die Krankheit des Eisens) besteht aus: ‹Il capo› – der Baustellenchef im Marmorsteinbruch von Carrara; ‹Da Vinci› – eine Tumoroperation mittels eines Roboters; und ‹Piattaforma Luna› – das Leben in einer Unterwasserdruckkammer. Die zweite Trilogie ‹Le radici della violenza› (Die Wurzeln der Gewalt) setzt sich zusammen aus: ‹San Vittore› – Zeichnungen von Kindern der Gefangenen, ‹San Siro› – das Stadion von AC Milan und FC Inter; und ‹San Giorgio› – die Goldvorräte einer Basler Bank. Der neueste Film ‹Il popolo delle donne› (Das Volk der Frauen) von 2023 ist die einzige Arbeit, die eine explizite Aussage macht: Die Psychoanalytikerin Marina Valcarenghi erörtert in einer Lectio Magistralis im Klostergang der Mailänder Universität, was Gewalt von Männern gegenüber Frauen motiviert. Yuri Ancarani legt die inneren Widersprüche und die überraschenden Schönheiten unserer Gesellschaft frei, durch einen Blick tief unter die Oberfläche.