Calder – Sculpting Time

Mit Alexander Calder zeigt das Masi Lugano ein Werk, das wir schon seit immer zu kennen meinen und nun die Gelegenheit erhalten, es in seiner Vielfalt und seinem Variantenreichtum vertieft in seiner ganzen Entwicklung zu entdecken: von einigen an Figürliches erinnernden Skulpturen (‹Big Bird›, ‹Funghi Neri›), über die ‹Constellations› aus bemalten Holzstücken, entstanden während der materialentbehrenden Kriegsjahre, zu den allbekannten ‹Mobiles› der Nachkriegszeit.

Die Kuratorinnen Carmen Giménez und Ana Mingot Comenge haben mit der Installation der Werke im offenen Raum eine radikale Wahl getroffen: ‹Mobiles›, ‹Stabiles› und ‹Constellations› führen einen Dialog, aktiviert durch die sich verändernden Betrachterblicke aus verschiedenen Perspektiven. Die weissen Scheiben am Boden unter den Skulpturen fungieren geschickt als Untermalung, Sockel und Schranken zugleich und strukturieren den Raum visuell. Informationen zu den Werken sind aus puristisch-ästhetischen Gründen nicht direkt in der Ausstellung, sondern nur im Saaltext nachzulesen.
Das Werk von Calder funktioniert heute noch wie bei seiner Entstehung vor hundert Jahren: es wirkt frisch, jung und keck. Es passt sich jeder Zeit spielend an und bleibt doch entrückt: Calder schafft einen konzentrierten Raum der dreidimensionalen Gegenstandslosigkeit, die nichts von dem globalen Getöse spiegelt. Seine Werke sind Lebensentwürfe der Leichtigkeit und leisten so Widerstand gegen die Schwere des Weltgeschehens. Indem Calder als einer der ersten die Bewegung und damit das Zeitmoment in die Bildhauerkunst einbringt, nimmt er in den 1930er-Jahren die zeitbasierten Kunstrichtungen der Postmoderne voraus: kybernetische Kunst, Performance oder Videokunst. Seine Vorfahren sind die Konstruktivisten für die kompromisslose Abstraktion und die Suprematisten für die Gleichgewichtsstudien in der Komposition. Seine Weggefährten sind Mirò, für das Verspielte und Kindliche, Mondrian für die Reduktion auf Primärfarben, Hans Arp für die amorphen Formen, die Surrealisten für das Assoziative und die Dadaisten für das Anarchische. Der Begriff der ‹Mobiles› stammt von Marcel Duchamp, jener der ‹Stabiles› hingegen ist die Antwort von Hans Arp für die unbeweglichen Arbeiten. Während sich die ‹Mobiles› mit der Luft bewegen und diese strukturieren, sind es bei den ‹Stabiles› die Betrachtenden, welche das Objekt umrunden und das Werk vervollständigen. Calder ist feinfühlig, humorvoll und vielseitig. Diese wahre Entdeckung eines alten Freundes sollte man sich nicht entgehen lassen.



5.5. – 6.10.24
Sculpture
Masi LAC Lugano


Published in
Kunstbulletin 9/2024

Ausstellungsansicht ‹Calder. Sculpting Time›, MASI Lugano. Foto: Luca Meneghel © 2024 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York
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Ausstellungsansicht ‹Calder. Sculpting Time›, MASI Lugano. Foto: Luca Meneghel © 2024 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York

Ausstellungsansicht
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Ausstellungsansicht “Calder. Sculpting Time”, MASI Lugano. Foto: Luca Meneghel © 2024 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York

Alexander Calder, Constellation, 1943, Holz, Draht und Farbe, 83.8 x 91.4 x 35.6 cm, Calder Foundation, New York, Foto: Tom Powel Imaging © Calder Foundation, New York. Foto courtesy Calder Foundation, New York / Art Resource, New York. © 2024 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York
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Alexander Calder, Constellation, 1943, Holz, Draht und Farbe, 83.8 x 91.4 x 35.6 cm, Calder Foundation, New York, Foto: Tom Powel Imaging © Calder Foundation, New York. Foto courtesy Calder Foundation, New York / Art Resource, New York. © 2024 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York