Mozzini-Forlin-Lurati – Ringen um Erinnerung und Herkunft

Die Casa Rusca in Locarno konzentriert aktuell ihren Fokus auf die Tessiner Gegenwartskunst. Drei Positionen, drei Generationen, eine Diaspora. Von der Auseinandersetzung der Kunstschaffenden Lurati, Forlin und Mozzini mit der Reminiszenz und den Orten ihrer Vergangenheit zeugen Zeichnungen, Installationen und Malereien.

Locarno — Was hat Herkunft mit Erinnerung zu tun? Erzwingt Erinnern einen Schritt zurück? Wohin führt er uns allenfalls? Ins Nichts? Und… wo war ich stehen geblieben? Die Dreierschau in der Casa Rusca in Locarno, kuratiert von Noah Stolz, vereint eine Künstlerin und zwei Künstler dreier Generationen mit Tessiner Wurzeln, die zeitenweise oder immer noch dem Tal entflohen sind – nach Zürich, Vevey, Basel oder Genf – und immer wieder zurückkommen. So unterschiedlich die drei Positionen, so ähnlich sind gewisse Topoi: kämpfen mit dem Ursprung, ringen um die Erinnerung, experimentieren mit Materialien, produzieren mit Nachhaltigkeit, Bezug zur Umwelt.
Lisa Lurati (1989) taucht in ihren Werken tief in die Symbolik der Amazonas-Urvölker ein, nach einer prägenden Pro-Helvetia-Residenz in Kolumbien. Eine Schlange aus aufgetürmten Steinen schleicht in den Raum einer überdimensionalen Cyanotypie, die märchenhafte Pflanzen und nächtliche Wesen im Mondschein versammelt. Das Video eines Ureinwohners, der dem Baum der Gerechtigkeit Töne entlockt, wird von Francesco Bonassis Soundarbeit effizient untermalt. Luratis Präsentation ‹Going Back into Nothing› hinterfragt unseren Ursprung und unseren vermeintlich verlorenen Bezug zur Natur. Karim Forlin (1977) macht Kunst seit einem traumatischen Unfall und anschliessendem phasenweisem Gedächtnisverlust. ‹Now… where was I?› vereinigt Skulpturen und Objekte, die sich mit Archetypen der Tessiner Kultur auseinandersetzen. Schwarz-weisse Zielscheiben aus Stoffresten verweisen durch die Nähtechnik auf Tessiner Pantoffeln, die Skulptur aus Verzasca-Granit und Holzstangen zitiert über Material und Form traditionelle Abschrankungen. Aldo Mozzini (*1956) mischt in ‹Quasi una retrospettiva› sein ganzes Künstlerleben neu auf in einer verworren inszenierten Ausstellungsinstallation voller Selbstreferenzen. Mit mehr als einem Augenzwinkern wirft er einen nüchternen und ehrlichen Blick zurück und offenbart uns über Skizzenbücher, Zeichnungen und vor allem Malereien aus den 1980er- und 1990er-Jahren, woher er und seine heutigen skulpturalen Installationen sich entwickelt haben. Er modelt seine Arbeiten aus vorgefundenen Materialien immer wieder neu um, zerschneidet, übermalt und zimmert sie wieder zusammen. Diesen Umwandlungen liegt ein stetiger Bewusstseinsprozess zu Grunde, das Retrospektive wird wieder zu Recyclingmaterial für zukünftige Schichtungen, Objekte und urbane Räume. Upcycling für konzeptuell und materiell nachhaltige Kunst, die in die Zukunft blickt. Barbara Fässler



3.12.23-25.2.24
Installation, painting, drawing
Casa Rusca Locarno


Published in
Kunstbulletin 1-2/2024

Ausstellungsansicht
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Ausstellungsansicht “Quasi una retrospettiva” von Aldo Mozzini, Museo Casa Rusca Locarno. Links: “Ohne Titel”, 1988, Acryl auf Leinwand, 150 x 200 cm; rechts: “Cattedrale bianca” (Weisse Kathedrale), 2023, Installation mit recycelten Fenstern und Holzbalken, variable Grösse, © Photo Nicolas Polli

Ausstellungsansicht
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Ausstellungsansicht “Going back into nothing” von Lisa Lurati, Museo Casa Rusca Locarno. Lisa Lurati, “Ohne Titel”, 2023, Cyanotypie auf Leinen, 350 x 500 cm, © Photo Nicolas Polli

Ausstellungsansicht, Innenhof des Museums Casa Rusca Locarno. Werke von Karim Forlin,
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Ausstellungsansicht, Innenhof des Museums Casa Rusca Locarno. Werke von Karim Forlin, “Step across the border”, 2023 (unten) und Aldo Mozzini, “Garitta”, 2023 (oben), © Photo Noah Stolz